Kurzgeschichte von Annette Hillringhaus

Verurteilt

Eine Erzählung zu den Skulpturen “Wenn Richten, … dann Aufrichten”

Die Gesellschaft hatte sich versammelt. Es war Gerichtstag und der Rat war zusammengekommen, um Recht zu sprechen. Mit Spannung erwartete man den heutigen Fall, denn er bewegte die Gemüter seit langen Zeiten.

Unter schweren Beschimpfungen wurde der sich wehrende Angeklagte, ein junger Mann, vor den Rat gezerrt. Sein Widerstand wurde jedoch zusehends geringer, bis der Beschuldigte schließlich mit Gewalt zu Boden gedrückt wurde. Bewegungslos kniete er da, den Kopf gesenkt und ergab sich erschöpft seinem Schicksal.
„Wessen hat er sich schuldig gemacht?“, erkundigte sich eine Greisin aus den Reihen des Rates und betrachtete den jungen Mann aufmerksam.
„Warum sind die Menschen böse?“, fragte ein Kind erstaunt, das ebenfalls dem Rat angehörte.
„Lasst uns hören, was der Kläger vorzubringen hat“, erwiderte ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, der Sprecher des Rates. „Wer ist der Kläger?“
„Wir!“, waren die lautesten Stimmen der Gesellschaft zu vernehmen.
„Was ist das Vergehen, dessen ihr den Angeklagten beschuldigt?“, wiederholte der Sprecher des Rates. Ein Tumult brach aus.
„Das sieht man doch!“, riefen einige.
„Das ist nicht zu überhören!“, entgegneten andere.
„Man kann es sogar riechen, das stinkt zum Himmel!“, ergänzte einer.
„Und es ist nicht nur ein Gefühl, nein, es ist Gewissheit!“, riefen ein paar äußerst erboste Mitglieder der Gesellschaft hasserfüllt.
„Dieser Mann da – er ist eben so ein Mensch – so ein … na, ihr wisst schon …“, sagten welche mit Abscheu.
„Hier muss ein strenges Urteil her, keine Gnade!“
Der Rat hörte den Vorwürfen der Gesellschaft andächtig zu. Als alle Anklagepunkte vorgetragen worden waren, ergriff der Sprecher des Rates erneut das Wort: „Hören wir nun, was der Beschuldigte zu sagen hat“, rief er und wies mit der offenen Hand in die Richtung des jungen Mannes, der noch immer vor ihm kniete und müde den Blick auf den Boden richtete. Er sprach kein Wort. Wieder begannen einige aus der Gesellschaft zu pöbeln und ihn zu beschimpfen. Manche bewarfen ihn sogar mit Schmutz, doch er schwieg.
Schließlich beendete der Sprecher das Spektakel: „Wir haben gesehen, gehört und verstanden. Der Rat wird sich nun zur Unterredung zurückziehen und zu einem Urteil kommen. Morgen soll es verkündet werden.“
Die Verhandlung wurde vertagt und der Angeklagte abgeführt, während sich die Gesellschaft daranmachte, ihrem Alltag nachzugehen.
Als sich am nächsten Tag die Gesellschaft erneut einfand, waren noch mehr Menschen anwesend als am Vortag, und man erwartete mit Ungeduld das Urteil des Rates. Die Ratsmitglieder betraten das Podium. Der Angeklagte kniete schweigend vor ihnen, als hätte er sich seit ihrem letzten Treffen nicht von der Stelle bewegt.
Der Sprecher des Rates trat hervor und erhob die Stimme: „Wir stehen hier vor euch, um das Urteil gegen den Beschuldigten zu verkünden, nachdem der Rat durch eingehende Prüfung des Falls zu einer Einigung gekommen ist. Vernehmt, was wir zu sagen haben: Da es sich bei dem Kläger um euch, die Gesellschaft, handelt, sollt ihr alle an der Vollstreckung des Urteils teilhaben! Nur so wird gewährleistet, dass der Inhalt unseres Richtspruchs zur Gänze und in voller Härte vorgenommen und ausgeführt werden kann! Wir verurteilen den Angeklagten zur bedingungslosen Entgegennahme folgender Maßnahmen, die mit sofortiger Wirkung und ohne Verzug von der Gesellschaft ausgeübt, ihm gegenüber angewandt und entgegengebracht werden sollen! Diese sind: Wohlwollen, Vertrauen, Respekt, Liebe, Zuspruch, Achtung, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Toleranz, Geborgenheit, Anteilnahme, Sympathie, Sicherheit, Ermutigung, Frieden, Schutz, Würde, Offenheit, Trost, Dankbarkeit, Verständnis, Zeit, Gelassenheit, Hilfe, Aufmerksamkeit, Kraft, Gemeinschaft, Akzeptanz, Hoffnung, Rücksicht, Halt, Interesse, Wertschätzung, Geduld, Lob, Unterstützung, Gunst, Fürsorge, Bestätigung, Integration, Anerkennung und Freundschaft! Der Verurteilte gilt als Mitglied und gleichwertiger Teil der Gesellschaft, gleichberechtigt und ebenso verpflichtet! Das Urteil ist verbindlich und die Verhandlung hiermit beendet! Nun geht und beherzt es gewissenhaft!“
Während dieser Worte trat eine Frau aus dem Kreis des Rates hervor und legte dem immer noch am Boden knienden jungen Mann ein silbernes Pektoral um, in das die aufgezählten sowie weitere Begriffe in feinen Schriftzügen eingraviert waren. Auf der Höhe der linken Brust befand sich zudem ein kleiner, gefasster Spiegel.
Der Verurteilte kniete zum Rat gerichtet, als plötzlich ein Kind inmitten des Rates freudig auflachte, denn es hatte sein Gesicht in dem Spiegel entdeckt. Sogleich huschte ein schwaches Lächeln über die Züge des jungen Mannes und er blickte auf.
Behutsam legte nun die Frau ihre Hände auf seine Schultern und wandte ihn langsam der Gesellschaft zu. Stille. Niemand sagte ein Wort.
Auf einmal erklang von dort eine begeisterte Kinderstimme: „Schau mal, Opi, ich sehe dich auf dem schönen Silberschal von dem Mann da vorne!“
Wieder herrschte Stille.
Schließlich löste sich ein älterer Mann mit ernster Miene aus der Mitte der Gesellschaft und ging auf den Verurteilten zu, dessen Blick wieder verunsichert auf den Boden fiel. Nachdenklich betrachtete der Ältere das Pektoral mit dem Spiegel über dem Herzen des jungen Mannes, den auch er zuvor verurteilt hatte. Mit einem Räuspern reichte er dem Verurteilten die Hand und sagte: „Komm, ich lade dich zu uns ein, da kannst du mir und meiner Familie mit meiner Enkelin – das ist die Kleine, die eben mein Spiegelbild bei dir gesehen hat – etwas über dich erzählen, denn mir scheint, ich weiß gar nicht, wer du wirklich bist.“

Annette Hillringhaus